Das Potenzial der digitalen Transformation für den Kultursektor entfalten
In unserem letzten Interview mit Creative Director Michael Masberg zum Thema interdisziplinäres Storytelling haben wir kurz erwähnt, dass sich die Institution der European Capital of Culture (ECOC) eher langsam verändert. Nun geht Michael weiter und wirft einen genaueren Blick auf die Ursachen und stellt dabei zwei zentrale Fragen: Wie können Kultureinrichtungen zu Leuchttürmen der digitalen Transformation werden? Und welches Potenzial haben interdisziplinäre Kooperationen, um ein Publikum anzusprechen, das bereits digital lebt? Dabei betrachten wir nicht nur die Kulturhauptstädte, sondern weiten den Blick auch auf andere Kultureinrichtungen wie Theater und Museen aus. Der Fokus liegt dabei vor allem auf Deutschland.
Kultur und Science Fiction haben eines gemeinsam: Sie sind im Idealfall ein Spiegel unserer Gesellschaft und unserer Zeit. Doch während es der Science-Fiction leicht fällt, beschleunigte Zukunftsvisionen zu formulieren, die sich an unserer Gegenwart orientieren, fällt es gerade Kulturinstitutionen manchmal schwer, mit der Gegenwart Schritt zu halten. Dadurch entsteht die Gefahr, dass Kultur außerhalb der (meist sehr digitalen) Lebenswirklichkeit des Publikums agiert. Warum ist das so?
Strukturelle Langsamkeit – Warum sich der Kultursektor wehrt
Manchmal erscheinen Kultureinrichtungen wie große Theater oder Kulturhauptstädte als ein schwer beladener Tanker. Sie ändern ihren Kurs eher schwerfällig. Das hat strukturelle Gründe, die vielleicht nicht allen Lesenden bewusst sind. Ich möchte daher auf zwei Beispiele eingehen: die ECOCs und die Theaterwelt. In beiden Fällen resultiert die Langsamkeit oft aus den langfristigen Planungsprozessen der Institutionen, die nur innerhalb eines begrenzten Rahmens auf die sich ständig verändernde Welt reagieren können.
Bei den Kulturhauptstädten startet der jeweilige EU-Staat mit einer Frist von sechs Jahren ein nationales Auswahlverfahren, das im darauffolgenden Jahr von einer Fachjury überprüft wird. Für die Städte, die sich in ihrem Land bewerben wollen, beginnt die konzeptionelle Arbeit noch früher. Nach der Entscheidung dauert es weitere vier bis fünf Jahre, bis das Konzept realisiert ist. In der Zwischenzeit stellt ein gutes Dutzend anderer Kulturhauptstädte ihr Programm vor. (In einem Kalenderjahr finden zwei bis drei Kulturhauptstädte parallel in verschiedenen Ländern statt). Der gesellschaftliche Kontext, in dem die Entscheidung für ein bestimmtes Konzept gefallen ist, liegt gut fünf Jahre in der Vergangenheit.
Es spielt auch eine Rolle, dass die eigentliche Programmausgestaltung ein bis eineinhalb Jahre im Voraus stattfindet, wenn die zu diesem Zeitpunkt laufenden Kulturhauptstädte noch nicht in der Lage waren, ihre Schlussfolgerungen zu ziehen und ihre Erkenntnisse weiterzugeben. Hinzu kommt, dass die Auswahlkriterien von der EU im Jahr 2014 für die Jahre 2020 bis 2033 festgelegt wurden. Sie werden sich also frühestens in zwölf Jahren ändern. Auch ohne Covid würde unsere Gesellschaft in vielen Bereichen ganz anders aussehen als noch vor sieben Jahren.
Bei den Stadttheatern wird bei der Berufung einer Intendanz die erste Spielzeit aus der Ferne geplant. Die zweite Spielzeit wird geplant, während die erste noch läuft. Deshalb sagt man, dass das dritte Jahr darüber entscheidet, ob ein:e Intendant:in in einer Stadt angekommen ist oder nicht. (Meist ist es das gleiche Jahr, in dem die Stadt über eine mögliche Vertragsverlängerung entscheidet.) Das verdeutlicht aber auch, dass die Entscheidung für ein bestimmtes Stück, ein Kreativteam und manchmal selbst die Besetzung bis zu zwölf Monate vor der Premiere fällt. Die Welt kann dann schon ganz anders aussehen.
Wir leben in einer beschleunigten Gegenwart
Dies sind nur zwei Beispiele für Ursachen, die Kulturinstitutionen nicht immer mit der Gegenwart Schritt halten lassen. Natürlich gibt es kurzfristige Programmanpassungen und eine gewisse Flexibilität in der Umsetzung. Aber an einem entscheidenden Punkt wird das vorhandene Potenzial nicht voll ausgeschöpft: bei der digitalen Transformation. Das führt dazu, dass die Gesellschaft oft viel digitaler ist als die Kultureinrichtungen, die sie abbilden sollen.
Ich propagiere keinen Zwang zur Digitalisierung. Sie ist kein Muss und kein Allheilmittel. Aber die digitale Transformation findet statt, unabhängig davon, ob Kulturinstitutionen sie begleiten. Wenn ich als Kind der frühen 1980er Jahre auf die Welt außerhalb der Institutionen schaue, wird mir klar: Wir leben in der Science-Fiction meiner Kindheit. Roboter mähen den Rasen und putzen das Haus. Waschmaschinen bestellen selbstständig Waschmittel. Augmented und Virtual Reality sind alltägliche Gadgets. Und die Digital Natives werden bereits von der nächsten Generation abgelöst. Die Welt entwickelt sich schneller, als Kulturhauptstädte oder Theater normalerweise ihre Entscheidungen treffen. Das führt zu schwieriger Akzeptanz, manchmal sogar zu Entfremdung. Und gleichzeitig ergibt sich genau hier eine Chance.
Leuchttürme im digitalen Nebel
Unsere beschleunigte Welt ist nicht einfach. Sie ist verwirrend. Oft widersprüchlich. Und nicht jeder Mensch hat die Fähigkeiten, mit dem erhöhten Tempo Schritt zu halten. Deshalb braucht es Kultureinrichtungen, die die digitale Transformation der Gesellschaft begleiten und zukunftsweisende Orientierung bieten. Das gilt insbesondere für Großveranstaltungen mit gesamtgesellschaftlichem Kontext, wie die Kulturhauptstädte. Im Grunde ist es die immergleiche Mission: Wegweisend zu sein im Wandel der Zeit. Aber mit der Ergänzung um eine digitale Komponente.
Mit anderen Worten: Es gibt ein Bedürfnis nach Orientierung, das es zu befriedigen gilt. Und Kulturinstitutionen können dies in einer Form anbieten, die der Lebenswirklichkeit ihrer Teilnehmer:innen, Besucher:innen und Zuschauer:innen entspricht. Leider entspricht das nicht immer der Arbeitsrealität der Institutionen. Das ist die eigentliche Herausforderung.
Co-Kreation ist der Schlüssel
Die Lösung ist Co-Creation, sowohl zwischen den Institutionen als auch mit der „anderen Seite“, den Gästen und Teilnehmenden. Um bei dem Bild des schwerfälligen Tankers vom Anfang zu bleiben: Kooperationen sind die schnellen Motorboote und Lotsenschiffe, die den Kurs zügig korrigieren. Und die ersten Motorboote sind bereits auf dem Weg.
Das Theaternetzwerk Digital ist eine beispielhafte Initiative in Deutschland. 15 Theater haben sich zusammengeschlossen, um Erfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen. Ziel ist es, die üblichen Negativnarrative aufzulösen, die die Entwicklung neuer Perspektiven behindern. Narrative wie: Misstrauen gegenüber dem Fortschritt der anderen, Angst, von digitalen Medien verdrängt zu werden, nicht genug Geld zu haben oder mangelndes Know-how. „Wir wissen nicht, wie man damit umgeht; es ist zu teuer; wenn wir das machen, verlieren wir das, was uns ausmacht.“ Stattdessen bauen Initiativen wie das Theaternetzwerk Digital oder externe beratende Instanzen wie battleROYAL Vertrauen in neue Fähigkeiten und die Möglichkeiten digitaler Tools auf.
Ähnlich funktioniert die Beteiligung der üblichen Zuschauer:innen. Die Institutionen schaffen weiterhin den Rahmen. Sie geben aber nicht die Inhalte vor, sondern kuratieren sie und geben sie in die Hände der Teilnehmenden. Durch diesen kollaborativen Austausch findet der Diskurs am Puls der Zeit statt. Gleichzeitig profitieren beide Seiten von der Expertise der anderen. Institutionen können Werte bewahren und Orientierung geben, während sie von den Digitalexpert:innen den einen oder anderen Trick lernen.
Die Arbeit von Kulturinstitutionen wandelt sich von der Präsentation von Ergebnissen (die vielleicht Jahre im Voraus festgelegt wurden) zu einem gemeinsamen Prozess, bei dem alle Beteiligten lernen. Das ist nichts Neues. Der Prozess ist das Kerngeschäft der Kultur. Daher ist es nur ein kleiner Schritt, dies auf die digitale Transformation zu übertragen. Damit schützen die kulturellen Institutionen ihre Identität und bleiben ihrer Mission treu, ein Spiegel unserer Zeit zu sein. Außerdem können sie die strukturelle Langsamkeit umschiffen. Vor allem aber können sie zu wahren Leuchttürmen der digitalen Transformation werden. Als Vorbilder. Als ein sicherer Ort für Experimente. Und als Wegweiser. Alles Dinge, die heute besonders notwendig sind.